Tabla
Die musikalische Überlieferung des indischen Subkontinents ist eine der ältesten und zugleich lebendigsten unseres Planeten. Altindischer Mythologie und Gelehrsamkeit zufolge war es Gott Shiva, der bereits 6000 Jahre vor unserer Zeitrechnung die Menschen Musik und Tanz lehrte. Musiktheorie bedeutet den Indern eine der vier Grundwissenschaften, die sich von den vedischen Schriften des zweiten und ersten vorchristlichen Jahrtausends herleiten. "Natya Sastra", ein in der heiligen Sprache Sanskrit verfaßter Text des Weisen Bharata aus dem 1. Jhd. v. Chr., ist die früheste systematische Abhandlung zur indischen Musik. Das bis heute wichtigste Werk indischer Musiktheorie, "Sangita Ratnakara", wurde von Sharngadeva im 13. Jhd. verfaßt. In den alten Schriften wurde noch nicht zwischen Musik, Tanz und Theater unterschieden. Natya, das indische Musiktheater, vereinte diese heutzutage getrennten Kunstgattungen in einer Art Gesamtkunstwerk.
Ab dem 13. Jhd. veränderte sich die Musikpraxis im Gefolge der fortschreitenden Islamisierung Indiens zu Gunsten höfischer Kunstmusik und einfacherer Musik religiöser Andacht und ekstatischer Hingabe (Bhajana und Kirtan). Diese prägen das Musikleben Indiens noch heute. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß die Kunstmusik den Machtverlust der Fürsten, ehemals wichtigste Mäzene, und den tiefgreifenden Wandel der indischen Gesellschaft seit der Kolonisation unbeschadet überstanden hat. Dies mag daran liegen, daß sie nie den engen künstlerischen und personellen Zusammenhang mit der religiösen und der Volksmusik verloren hat, obwohl sie als Kammermusik ausschließlich vor erlesenen Publikum aufgeführt wurde. Selbst berühmte Kunstmusiker sind sich heute keineswegs zu schade, sich der Aufführung einfacherer Gattungen zu widmen oder zusammen mit Heiligen zu musizieren, die eher die Tiefe als die Raffinesse in der Musik suchen.
pics
Genauso blieb umgekehrt die musikalische Unterweisung nie auf eine Gesellschaftsschicht beschränkt. Es vermag manch indischer Bauer oder Handwerker einen Vortrag der schwierigsten Kunstmusik vollauf zu würdigen und zu beurteilen, wenn auch die Mehrzahl der Aufführenden aus Brahmanen-Familien stammt. Klassische indische Musik ist solistisch. Sie legt ihre Gedanken und Gefühle nacheinander in einer Linie dar. Mehrstimmigkeiten wie in der europäischen Harmonik oder in der afrikanischen Rhythmik sind ihr fremd. Das zentrale Konzept der indischen Klassik ist der Raga. Jeder Raga stellt einen melodischen "Modus" dar, der ein Stück in mehrerer Hinsicht prägt. Er bestimmt zunächst den Grundton und die Tonleiter. Die sieben Haupttöne der Oktave werden - zur Übung wie auch in manchen konzertanten Formen - mit den Solmisationssilben sa, ri, ga, ma, dha, ni, sa zum Ausdruck gebracht. Schon vor Christi Geburt wurden die drei verschiedenen Grundstimmungen, auf welchen die Vielzahl der gespielten Raga-Skalen im einzelnen aufbaut, nach ihren Anfangstönen benannt: Sa-Grama, Ga-Grama und Ma-Grama. Die Tonhöhe fast aller Haupttöne des Raga kann feinste Abweichungen unterliegen. Dafür stehen 22 Mikro-Intervalle (Shruti) gleichen Abstandes zur Verfügung. Diese sogenannte enharmonische Teilung geht wahrscheinlich auf Einflüsse der Musik des antiken Griechenland zurück. Desweiteren wohnen dem Raga Regeln inne, welche als Begrenzung des Tonumfanges und Auswahl von Tonfolgen die Verlaufsform der melodischen Linie prägen. Außerdem grenzt der Raga die Verwendungsweise ornamentaler Stilmittel ein, welche sowohl zur Verzierung der Tonartikulation als auch zur melodischen Phrasierung dienen. Der Raga ist demnach keineswegs ein rein theoretischer Begriff. Er gibt Muster zur Musikpraxis an die Hand. Auch erschöpft er sich nicht allein im musikalischen Wortsinn einer bestimmten Melodiefigur. Raga bedeutet darüber hinaus "Gefühl", "Atmosphäre", "Stimmung" und "Schönheit". Dies hängt damit zusammen, daß jeder Raga eine bestimmte Empfindung, Rasa ausdrückt, um bei den Zuhörern Emotionen hervorzurufen. Ebenso stehen viele Raga mit bestimmten Anlässen, Göttern, Tages- und Jahreszeiten in Verbindung
Die äußere Form eines Raga bilden drei Elemente: Der erste Satz nennt sich "Alap". In ihm wird langsam Ton für Ton, zuerst in den tieferen Lagen, später in den höheren, die Struktur des Raga entwickelt. Im zweiten Satz, dem "Gat", setzt die Beleitung des Rhytmus-Instrumentes ein. Das Stück gipfelt in einem sehr schnellen Tempo, "Jhala" genannt. Der Rhythmus wird von der Tala angegeben. Dabei ist Tala im weitesten Sinne als belebendes Element zu verstehen. Verschiedene Talas ermöglichen dem Raga sehr unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten. Erst im Zusammenspiel von Raga und Tala vermag sich die vollendete Komposition zu entfalten. Über den Ursprung des Wortes Tala gibt es verschiedene Anschauungen. Das rhythmische Händeklatschen zum Halten des Taktes oder die Ableitung der Silben "Ta" (von Tandava: kosmischer Tanz Shivas) und "La" (von Lasya: weibliches Gegenstück) sind zwei mögliche Abstammungen.
Der Begriff Tala hat neben seiner mehr philosophischen Bedeutung - gleichsam Pulsschlag der Improvisation zu sein - auch eine eher technische Seite: Aufteilung des Rhythmus-Zyklus in Untereinheiten (Matras), d.h. eine definierte Folge von betonten und unbetonten Schlägen oder Pausen bestimmter Länge. Mit Theka bezeichnet man jeweils eine Schlagsequenz, welche für einen bestimmten Tala charakteristisch ist. Ebenso wie Ragas trotz gleicher verwendeter Notenskalen sehr unterschiedlich sein können, so ergeben sich auch bei gleicher Zahl von Matras im Zyklus durch unterschiedliche Betonung der Schläge Talas in sehr unterschiedlicher Prägung. Beispielsweise kann ein Zyklus von 10 Matras sowohl in die Folge 2-3-2-3 als auch in 3-4-3 aufgeteilt werden. Ein Zyklus kann von 3 bis über 100 Matras enthalten. Damit können sich rhythmische Strukturen einer Komplexität ergeben, die wohl nur in der indischen Musik erreicht wird.
Ursprung aller indischen Musik ist die menschliche Stimme. Davon zeugt die Melodiebetontheit, die Monomelodik und die ausgefeilte Ornamentik in der Art, einen Ton anzusingen. An der menschlichen Stimme und ihren Ausdrucksgrad orientierte sich die Entwicklung der Melodieinstrumente. Die hervorragende Bedeutung des Vokalen zeigt sich darin, daß Musikinstrumente in ihrem künsterlischen Wert u.a. daran bemessen werden, inwieweit sie Merkmale der menschlichen Stimme nachzuahmen imstande sind. Nordindische (hindustanische) Musik hat vorrangig improvisatorischen Charakter. Tradierte Formen werden aufgegriffen, variiert und künsterisch improvisiert. Eingesetzte Instrumente sind: Sitar, Tampura (Bordun-Laute) Sarod (Lautenart), Santoor (persisches Hackbrett), Bansuri (Bambusflöte), Harmonium, Sarangi (Streichinstrument), Tabla und Pakawaj (röhrenförmige Doppeltrommel). Südindische (karnatische) Musik ist weniger improvisatorisch. Sie folgt festgelegten tradierten Regeln und Kompositionen. Vorrangig eingesetzte Instrumente sind: Rudra Vina (Art von Urform der Sitar), Gottuvadyam (liegend gespieltes Saiteninstrument), Tampura, Harmonium, Geige, Esraj (Doppelgeige), Mrindangam (röhrenförmige Doppeltrommel - hat eine etwas andere Bauart als Pakawaj), Ghattam (Tonkrug), Kanjira (Art von Tampurin mit Echsenhaut bespannt), Morsing (Maultrommel), Khol (kleine Röhrentrommel),....